
«Die Schulbücher sind in ihrem Kern rassistisch» – Die Vorwürfe im Sonntagsblick vom 15. November 2020 waren klar und massiv. Doch welche Konsequenzen hat dieses Urteil für den Unterricht? Sollen die Kantone die Schulbücher aus dem Verkehr ziehen? Und wie geht man mit Unterrichtsmaterial aus dem Internet um, das von niemandem zentral überprüft wird? Bryan Stutz, Fachexperte Deutsch, und Alexandra Binnenkade, Fachexpertin RZG am Pädagogischen Zentrum, finden: Es gibt bessere Wege, als Bücher zu verbieten.
Die Blick-Schlagzeile stützte sich auf die Arbeit von Rahel El-Maawi und Mandy Abou Shoak. Die beiden hatten fünf Deutsch- und vier Geschichtslehrmittel für die Mittel- und Oberstufe untersucht und kamen zum Schluss, dass explizit rassistische Ausdrücke selten sind. Jedoch hielten die Wahl der Bilder, die Kontextualisierung und vor allem die Erzählperspektiven in den Lehrmitteln den abwertenden Blick auf People of Color aufrecht. Damit würden Kinder verletzt und Diskriminierung gefördert.
Weglassen ist keine Lösung
Wie gehen wir mit dieser Erkenntnis um? «Bildung hilft», da wären sich gewiss alle einig. Und ebenso, dass die Realität im Schulzimmer komplex ist. Zum Beispiel arbeiten viele Lehrpersonen nicht nur mit den Schulbüchern, die auf den Lehrmittellisten stehen, sondern sie suchen und finden im Internet Material in Hülle und Fülle, das sie im Unterricht einsetzen wollen: Quellen, Arbeitsblätter, Blogbeiträge, Filme, Erklärvideos, Podcasts… Im Gegensatz zu den zugelassenen Lehrmitteln sind diese Informationen und Bilder selten von einer neutralen Fachstelle überprüft worden. Oft stammt das online-Material zudem aus gesellschaftlichen Kontexten, in denen Rassismus, Kolonialismus und Diskriminierung anders diskutiert werden als in der Schweiz. Anhand dieser Beispiele könnte der Eindruck entstehen, dass Rassismus das Problem von «anderswo» ist.
Per Gesetz oder mit verschärften Kontrollen wird sich das Problem nicht beheben lassen. Es wird noch lange Sätze, Bilder, ganze Texte geben, die Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihres Status in der Gesellschaft, ihrer sexuellen Identifikation, körperlicher Eigenschaften, ihrer Religion abwerten – die Liste von Kategorien, die Ausgrenzung und Entmachtung ermöglichen ist lang. Lehrerinnen und Lehrer müssen pragmatisch selbst entscheiden können, wie sie mit rassistischen Bildern, Formulierungen und Narrativen umgehen. Eines ist jedenfalls sicher: Weglassen ist keine Lösung. Im Gegenteil.
Rassismus beruht auf Interaktion
Rassismus steht in einem kommunikativen Kontext, beruht auf Interaktion. Das gilt sowohl historisch wie auch im Alltag. Wenn man Rassismus als negative Interaktion sichtbar macht, kann man darüber ins Gespräch kommen. Lehrpersonen haben zwei Gelegenheiten, sich mit Rassismus zu befassen: Bei der Vorbereitung und im Unterricht.
Auf der einen Seite, beim Vorbereiten, ist Rassismus Wissen, ein Thema im Fach Geschichte, in Deutsch, ERG, Geographie, Musik, Kunst – fängt man an, darüber nachzudenken, ist die Geschichte des Rassismus in allen Fächern ein möglicher Unterrichtsgegenstand. Was ist mit «Völkerball» oder «Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?», dem Kanon «C-A-F-F-E-E»?


in einem Schulbuchtext, auf einem Arbeitsblatt oder in einem Quellentext:
- Wessen Perspektive wird geschildert? Wer fehlt?
- Wer ist aktiv, wer passiv?
- Mit welchen Bezeichnungen, Verben, Adjektiven arbeitet der Text? Pauschalisierungen wie «die Europäer» oder «die Weissen» sind irreführend; «die Eingeborenen» schreibt man nur, wenn man aus der Sicht derjenigen schreibt, die nicht wissen, wer dort lebt; Passivkonstruktionen verschleiern Gewalt und Verantwortlichkeiten
- Welche Folgen sind benannt, welche nicht?

- Wer ist oben, wer ist unten? Wer ist bekleidet und wer nicht?
- Wer ist wohlhabend, wer nicht?
- Wer steht «im Licht»?
- (Wie) Werden Machtverhältnisse sichtbar?

- Wer spricht korrekt und wer nicht? Angenehm oder unangenehm?
- Wer bewegt sich auf vertraute Weise und wer nicht?
- Wer hat wie viel Redezeit, Entscheidungsmöglichkeiten?
- Welche Wirkung haben Musik und Hintergrundgeräusche?
Zum Hinschauen animieren
Diese Fragen kann man nicht nur sich selbst stellen, sondern auch der Klasse. Es sind wichtige Fragen für die Quellenkritik oder Lektürebesprechung. Sie ermächtigen Schülerinnen und Schüler, selbst zu erkennen, wenn Beiträge ausgrenzend sind.
Die Fragen haben einen weiteren positiven Effekt: Sie erzeugen Multiperspektivität und animieren zum Hinschauen. Soll im Deutschunterricht auf die Kurzgeschichte «Die Probe» von Herbert Malecha verzichtet werden, weil das N-Wort darin vorkommt? Nein, denn grundsätzlich öffnet sich hier ein Raum für Reflexion, weil die Schülerinnen und Schüler wissen, dass dieses Wort äusserst verletzend ist und deshalb nicht gebraucht werden soll. Anhand eines Worts wie diesem kann aufgezeigt werden, dass Sprache im Wandel ist. Ausserdem regt es dazu an, Fragen zum aktuellen Sprachgebrauch zu stellen: Machen wir ausgrenzende Äusserungen? Wie fühlen sich Betroffene? Wie sollten wir damit umgehen, wenn uns Menschen auffallen, die sich – bewusst oder unbewusst – rassistisch äussern? Hier kann der Workshop von Amnesty International zum «Argumentieren gegen Stammtischparolen» Werkezeuge an die Hand geben.
«Den anderen eine Stimme geben» – gar nicht so einfach!
Beim Zusammentragen des Unterrichtsmaterials stellt sich auch die Frage, ob sich eine Ergänzung finden lässt, die mindestens eine weitere Sicht thematisiert. Doch Vorsicht!:
Es ist nicht einfach, Zitate oder Bilder der «andern» zu finden, denn oft stammen sie von Autoren und Fotografen im Dienst der Kolonialmacht, des Regimes, kurz derjenigen Gruppe, die machtvoll war, ausgrenzen und Gewalt anwenden konnte. Ob wir wollen oder nicht, stehen wir mit ihnen zusammen hinter der Kamera, wiederholen ihren Blick, ihre Perspektive.

Oft lauert dahinter ausserdem die Falle, dass wir eine Stimme, eine Person, eine Institution für «die Kolonisierten», «die Juden», «die Frauen» sprechen lassen. Das ist nicht nur in der Sache falsch, es ist für die Angesprochenen auch sehr unangenehm. Die jüdische Publizistin Marina Weisband thematisierte das jüngst in einer Rede: «Teil einer kleinen Minderheit zu sein, bedeutet immer, alle zu repräsentieren und von allen repräsentiert zu sein. Ob man will oder nicht.»
Impliziter Rassismus im Schulzimmer
Beispiel eins: Die Klasse nimmt die Geschichte des Kolonialismus durch und es entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob das Wort «Mohrenkopf» ausgrenzend ist. Spontan ruft die Lehrperson den einzigen dunkelhäutigen Schüler in der Klasse auf und fragt ihn, wie das denn die People of Color empfinden. Okay oder nicht? Situationen, in denen jemand für alle (Muslime, Homosexuelle, Juden, Schwarze, Ausländer, Frauen) antworten muss, machen diese Person zu einem «token», einem Symbol. Die, die so fragen, stellen jemanden unerwünscht ins Scheinwerferlicht und machen ihn zum Repräsentanten einer ganzen Gruppe – das ist Blossstellung und Überforderung (eines Schulkindes) zugleich.
«Tokenism» ist eine implizite Form von Rassismus, die vielen nicht bewusst ist und auch aus gut gemeinten Motiven entstehen kann. Das macht ihn allerdings in der Wirkung nicht weniger problematisch.
Beispiel zwei: Als Lehrperson will man seine Schülerinnen und Schüler optimal auf ihrem Lernprozess begleiten. Trifft ein Kind aus der Fremdsprachenklasse auf die normale Regelklasse, will die Lehrperson das Kind bei der Nachbesprechung des Lesetextes nicht überfordern. Es soll Zeit haben anzukommen und wird im Plenumsunterricht in den ersten Wochen nicht aufgerufen. Doch: Will dies das Kind? Entspricht es ihm? Hat es nicht einen Beitrag zu leisten? Trotz den besten Absichten braucht es in solchen Situationen viel Fingerspitzengefühl seitens der Fachlehrperson, damit das Kind aus der Fremdsprachenklasse nicht stigmatisiert wird und es die ihm zustehenden Bildungschancen erhält.
Gegen impliziten Rassismus helfen Dialog und Interaktion: Lesen, zuhören, Fragen stellen und darüber reflektieren, was Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler beobachten. Letztlich geht es darum, auch hier in der Schweiz das zu erkennen, was auf Englisch «white privilege», etwa Privileg des Weiss-Seins genannt wird. Das können auch Schülerinnen und Schüler, wenn das Thema einmal lanciert ist.
Expliziter Rassismus im Schulzimmer – Anlass für ein Gespräch
Ist es einfacher auf Rassismus zu reagieren, wenn er explizit ist, etwa wenn rassistische Beschimpfungen gemacht werden oder ein problematisches Wort in einem Text vorkommt? Nicht unbedingt, denn die Lehrperson muss sich erstens Zeit für ein Klassengespräch nehmen können. Zweitens setzt ein solches Gespräch eine vertrauensvolle Klassenkultur voraus, die es erlaubt, über Rassismus im Dialog zu sein, und drittens braucht die Lehrerin, der Lehrer Wissen: über einzelne Wörter, über verlässliche Ressourcen zum Nachschlagen, über Gesprächsführung.

- Definition von «Rassismus» in einfacher Sprache der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung (BPB)
- Themendossier «Rassismus» von éducation21
- Beitrag «Kolonialismus, Rassismus und Sprache» auf der Seite der BPB
- Beitrag «Sprache gegen Rassismus» des Kindernachrichtensenders des ZDF
- Artikel von Juliana Kolberg über ihre Erfahrungen: «Sprache und Rassismus: Wenn Wörter wehtun»
- «Jerusalem Declaration», ein Werkzeug, das hilft, Antisemitismus zu erkennen (auf Englisch)
- Artikel «9 tips teachers can use when talking about racism»
- «Zeit gegen Rassismus 2021» – Material und Veranstaltungen von Radio X
Vieles hängt auch von der Tagesform der Lehrperson ab,: Es gibt einfach Tage, da liegt ein solches Gespräch nicht drin. Das hat mit den verfügbaren Ressourcen zu tun, mit bestehendem Druck, mit der konkreten Situation. Was aber immer möglich ist, ist, sich den Moment bewusst zu machen und zu überlegen, wie es damit weitergehen soll. Man kann sich Wissen holen, Zeit oder einen Anlass schaffen, beim nächsten Mal einhaken und dabei die Klasse auch an diesen früheren Augenblick erinnern.
Die Lehrperson kann dann vielleicht erläutern, welchen historischen Ballast ein Wort trägt; sie kann an einem rassistischen Wort zeigen, wie sich Sprache im Verlauf der Zeit verändert und mit der Klasse die Bedingungen einer solchen Veränderung zur Forschungsaufgabe machen; sie kann darauf eingehen, was für Folgen es hat, wenn Worte wie dieses verwendet werden.
Die Schule spielt eine wichtige Rolle
Rassismus ist Teil der Gesellschaft, in der wir leben und kommt auch in Unterrichtsmaterial vor. Niemand schafft ihn in einer Lektion aus der Welt, nicht einmal aus der Klasse. Genauso, wie viele kleine Aktivitäten Rassismus am Leben erhalten, wirken ihm viele kleine Aktivitäten entgegen. Es braucht nicht immer die ganze Stunde zu sein: Reflektierender Umgang kann bereits darin liegen, dass jemand im Raum auf eine Formulierung aufmerksam macht, die Perspektiven erweitert, hinschaut. Das Ziel ist, dass sich Lehrpersonen und Schülerschaft bewusst werden, dass Rassismus da ist, dass sie wissen, dass Nachfragen, Zuhören und Nachdenken, dass Kommunikation und Interaktion wichtige Gegenspieler von Rassismus sind – das kann jede und jeder im Auge behalten.
Die Schule spielt dabei eine wichtige Rolle. Denn für viele ist das der einzige Ort, an dem sie sich mit andern darüber austauschen können, manchmal müssen. Hier kommen Wörter, Bilder, Schulbuchtexte, Online-Arbeitsblätter, Filme, Schülervoten, Lehrerinnenhandeln und Schülerinnenhandeln zusammen. Das Beste, das hier passieren kann, ist, dass ein reflektierender Umgang damit in Gang kommt und dass sich entsprechende Muster ausbilden, die auch jenseits der Schule zur Verfügung stehen.
Danke für die wichtigen Fragestellungen! Herzlich, F.
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