Sieben Wochen ohne Noten – Geschenk oder Schikane?

Like, dislike, irgendwo dazwischen? Wie beurteilen, wie bewerten wir die Leistung von Lernenden?

Die Corona-Rahmenbedingungen schufen neue Möglichkeiten: Während sieben Wochen setzte das Erziehungsdepartement die Noten an allen Schulstufen aus. Ein Grund zur Freude? Gibt es ein Recht auf Noten? Andreas Richard und Alexandra Binnenkade vom Pädagogischen Zentrum PZ.BS gehen diesen Fragen nach.

Die Noten waren abgeschafft. Wie gingen Lehrpersonen damit um? Wie immer war das Spektrum breit. Einige setzten auf Business as usual: Sie formulierten wie gewohnt Prüfungsfragen, liessen sich schriftliche Antworten geben und meldeten den Schülerinnen und Schülern den Wert dieser Antworten zurück; und zwar in nackten Zahlen. Sinngemäss klang das dann so: «Du hattest eine 5. Allerdings zählt die Note nicht. Aber immerhin weisst du, wo du stehst.» Andere nahmen die Gelegenheit zum Anlass, entweder schriftlich oder mündlich ein kurzes Feedback zu geben. Auch ihre Schülerinnen und Schüler hatten nun Anhaltspunkte darüber «wo sie standen», aber vielleicht weniger im Vergleich zur Klasse als vielmehr angesichts der bisherigen eigenen Leistung. Wieder andere Lehrpersonen nahmen Leistung zur Kenntnis, versuchten nun aber vermehrt, aufs Lernen zu fokussieren. Sie fragten schriftlich und mündlich nach: «Wie bist du vorgegangen? Was hat dir etwas gebracht? Was hast du eigentlich bei dieser Aufgabe gelernt? Was hättest du gebraucht?»

Es gab also Lehrpersonen, die summative Beurteilungen vornahmen und solche, die formative Bewertungen in den Vordergrund stellten und es gab solche, die beides ausprobierten. Was bringt mehr?

Beurteilen ist summativ

Die Frage ist falsch. Respektive müsste man sofort nachhaken: Bringt mehr wofür? Eine summative Beurteilung steht meistens am Ende eines Lernprozesses. Wir schreiben «meistens», weil es durchaus Situationen geben kann, in denen eine Lehrperson summative Prüfungen in diagnostischer Absicht durchführt, dazu dann später mehr.

Summativ beurteilen heisst: Diese Note bekommt man am Ende einer Lerneinheit. Es wird ein Schlussstrich gezogen.

Die Lehrperson ordnet die Leistung einer Schülerin, eines Schülers im Hinblick darauf ein, ob sie oder er in die nächste Klasse kommen wird. Vergleichsgrösse ist die Klasse.

Wer weiss in Basel-Stadt, dass das solche Leistungserhebungen nicht notwendigerweise mit Zahlen erfolgen müssen? Infomentor, die Beurteilungssoftware in Basel-Stadt, erlaubt Lehrpersonen Alternativen zu den Zahlen von eins bis sechs. Eine Lehrperson kann Farben setzen und damit die Entscheidung verschlanken: rot, gelb und grün zeigen allen Beteiligten an, wie die Schülerin, der Schüler leistungsmässig unterwegs ist. In der Beurteilungssoftware können Berichte abgespeichert werden, auch Buchstaben können eine Skala bilden. Einzig für das Zeugnis gibt dann in coronafreien Zeiten die Schullaufbahnverordnung das Format eindeutig vor.

Bewerten ist formativ

Formativ bewerten? Für einige klingt das wie die Softversion von Noten. Formativ ist irgendwie weich, vielleicht ein wenig kuschelig. Aber ist es effizient? Respektive: effizient wofür?

Die Fachleute aus der Lernforschung sind sich einig: Formatives Bewerten (im Sinne von «Wert geben») und Begutachten sind Formen von Feedback, und das wiederum gilt als die wirksamste Methode, mit der Lernen ermöglicht werden kann. Immer mehr wird deutlich, dass formatives Bewerten den Boden bereitet für summatives Beurteilen.

Im englischsprachigen Raum spricht man von «continuous assessment», auf Deutsch fortlaufende Einschätzung oder Einordnung (to assess: bewerten, bestimmen, abschätzen). Dieser Begriff trifft den Gedanken ziemlich genau: Beim formativen Bewerten geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler regelmässig und oft eine Rückmeldung dazu bekommen, wie sie arbeiten, was sie beherrschen und was nicht, wie sich ihr Lernverhalten auswirkt, worin sie sich üben müssen. Kurz:

Lehrpersonen kommentieren Produkte und Verhalten, um für die Lernenden oder mit ihnen festlegen zu können, was das nächste sinnvolle Ziel im Unterricht ist.

Formative Bewertung ist das wirkungsvollste Werkzeug einer Lehrerin, eines Lehrers, um Kinder und Jugendliche individuell zu fördern und kollaboratives Lernen auszubilden.

Formativ – summativ am Suppenbeispiel

Es mangelt nicht an Videos und Visualisierungen, die den Unterschied zwischen formativem und summativem Beurteilen erklären möchten. Eine ungewöhnliche, aber eingängige Darstellung haben wir bei Willow Education gefunden:

Das Bild ist online zugänglich unter www.willoweducation.co.nz/2017/01/formative-summative/ (eingesehen am 1.7.2020)

«Nun ja», mag die eine oder der andere denken, «das weiss ich. Wenn ich Zeit habe, wenn es vom Stoffplan her passt, dann mache ich das sehr gern, ich sehe den Nutzen davon wirklich ein.»

«Formative Bewertung ist die Kür des Unterrichtens. Aber die Zeugnisnote am Ende des Semesters, die ist Pflicht.»

«Das wissen nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch ihre Eltern. Ausserdem haben Noten eine disziplinierende Wirkung, das hören vielleicht nicht alle gern, aber das ist eine Tatsache.»

Wie bewerte ich?

Wie bewerte ich, ist immer auch die Frage: Was bewerte ich? Zu welchem Zeitpunkt? Wer bestimmt? Geht es um individuelles oder gruppenspezifisches Lernen? Geht es um das Produkt, den Prozess, die Mitbestimmung, die Sozialform?

Produkt
Neben der schriftlichen Abfrage gibt es eine Vielzahl anderer Pro­dukte oder Anlässe zu kom­petentem Tun/Han­deln, die formativ und summativ beurteilt werden können
Dasselbe «Thema» an unterschiedlichen «Or­ten» bewerten, z.B. Kommasetzung im Aufsatz, in der Zusammenfassung etc.
Bewertet wird das Handeln, Schreiben, Präsentieren, Visualisieren
Prozess
Zwischenhalt oder Zwischen­produkte definieren
Lernen sichtbar machen an Zwischenresultaten (Mindmap/Conceptmap zu verschiedenen Zeitpunk­ten, Mentale Karten zeichnen, Schema oder Ablauf zeichnen)
Ein Element herausheben: z.B. Form, «Projektma­nagement», Selbstrefle­xion, von andern lernen können, Ideen fürs Wei­terdenken entwickeln, do­kumentieren, andere coa­chen etc.
Die Schülerin/der Schüler kann einen vorgegebenen Ablauf mit Anleitung, mit wenig oder ohne Anleitung einhalten und zeigt damit seine/ihre Kompetenz, was das Vorgehen betrifft
Mitbestimmung
Schüler/in bestimmt, ob das erste Resultat zählt oder eine verbesserte Version (Lehrperson kann sehen, ob die Rückmel­dung verstanden wurde)
Schülerinnen und Schüler können bei den Bewer­tungskriterien mitbestim­men, wobei es verhandel­bare und nicht verhandel­bare Kriterien gibt
Schülerinnen und Schüler können den Schwerpunkt mitbestimmen: Soll dieses Mal das Forschen, die Schlussfolgerung, die Prä­sentation, die Reflexion, die Planung bewertet werden?
Peerfeedback: Kleingruppen geben sich untereinander Feedback, oder Delegierte für bestimmte Themen (z.B. Gross-/Kleinschreibung, Vollständigkeit, Fragestellung etc.) geben den Kameradinnen und Kameraden Rückmeldung
Sozialform
Erarbeiten im Team heisst for­mative Bewertung der Team­arbeit, des Teamprodukts. Falls individuelle Anteile sichtbar gemacht werden sol­len, vorher abmachen, welche das sind
Gruppenleistung, Gruppen­lernprozess über einen länge­ren Zeitpunkt beobachten und begutachten, Selbstreflexion einbeziehen
Wie bei einem Gruppenturnier: Die kollaborative Lernleistung der Gruppe zeigt sich im Vergleich (wird durch eine Rangfolge in der Klasse sichtbar) oder an­hand der individuellen Lern­fortschritte der Gruppenmit­glieder

Kann man das auch zeit-effizienter machen?

Formative Bewertung hat mit Diagnose zu tun und kann sehr zeitintensiv sein. Deshalb sind Formate gefragt, die mit möglichst wenig Zeitaufwand sowohl für die Lehrperson als auch für die Schülerinnen und Schüler Aufschluss geben über den Kompetenzstand. Im Idealfall sind sie gleichzeitig eine Lerngelegenheit für die Kinder oder Jugendlichen. Salopp gesprochen, versucht man so, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wie zwei Beispiele aus dem Mathematikunterricht zeigen:  

Ein effektives Instrument sind sorgfältig gewählte Kontrollaufgaben, mit denen eine Lehrperson überprüfen kann, ob die Kinder und Jugendlichen die zentralen Konzepte des aktuellen Themas richtig verstanden haben.

Ein weiteres Instrument ist das Merkheft, mit dem wir in Mathematik arbeiten:

In dieses Merkheft notieren Schülerinnen und Schüler eigene Erkenntnisse, Dinge, die sie wichtig finden, oder solche, die ihnen jetzt klar geworden sind.

Für die Schülerinnen und Schüler ist das Merkheft nützlich, weil es ihnen als Gedankenstütze dient. Sie geben sich gewissermassen selbst ein erstes Feedback darüber, was sie gelernt haben. Die Lehrperson kann mit Hilfe des Hefts den individuellen Lernprozess wahrnehmen, der darin sichtbar wird und diesen Prozess kommentieren.

Kommentare: Schneller und effizienter

Kurz und oft ist mehr als lang und selten.

Einen kurzen Kommentar kann man mündlich machen, als E-Mail (zum Beispiel beim Fernlernen) oder handschriftlich. Er kann einmalig auf dem Lernprodukt stehen, bei vordefinierten Etappen auf dem Projektfahrplan eingetragen werden, oder als regelmässiger Eintrag im Heft vorkommen.

Die formative Bewertung kann frei formuliert sein, sie kann sich auch an vier, fünf ausgewählten Stichworten orientieren (nicht nur Substantive, auch Verben), die die Lehrperson für die Klasse oder das Lernziel festgelegt hat.

Sie erfolgt vielleicht halb bis ganz standardisiert in einer Tabelle, die den Schülerinnen und Schülern mittels Beispielen ein Spektrum aufzeigt, auf dem sie verortet werden. Vielleicht verorten sie sich auch zuerst selbst darauf, vielleicht kann die Lehrperson auch die Wahrnehmungen der Klassenkameradinnen und -kameraden einbeziehen.

Eine Schülerin, ein Schüler kann einen Versuch vorführen, einen Rhythmus schlagen, eine Schale töpfern, während die Lehrperson zuschaut und ein mündliches Feedback gibt während der Versuch läuft. Wenn die Lehrperson dann parallel dazu die Bewertung festhält, braucht sie nur noch wenige Stichworte, oder vielleicht kreuzt sie auf dem Evaluationsblatt das entsprechende Feld an. Je mehr formative Zwischenevaluationen eine Schülerin, ein Schüler beim Erarbeiten eines Produkts bekommt, desto transparenter ist die abschliessende Beurteilung. Letztere ist dann übrigens auch schneller gemacht und wird von Eltern gut akzeptiert.

Und wie geht das digital? Mit Apps und Programmen, …

Es gibt mittlerweile zahlreiche Apps, die Wissen überprüfen: bestehende oder selbst formulierte Quizzes bei ILIAS, in Teams oder bei externen Anbietern wie kahoot, quizlet, Socrative, Google Forms, oder auf Webseiten, die bereits im Hinblick auf die Wiedergabe von Wissen programmiert sind. Erreichte Punkte können Teil einer Standortbestimmung werden, die zum Ziel hat, die nächsten Lernschritte festzulegen. Zu diesen Angeboten gehören auch Aufgabensammlungen wie Mindsteps, das Lehrpersonen in Basel-Stadt nutzen können.

Lehrpersonen können Schülerinnen und Schülern auch mit Standard-Programmen formative Rückmeldung zu ihren Produkten geben: Word und pdf haben Kommentarfunktionen, aus denen heraus mittels Links gezielt auf andere Materialien verwiesen werden kann, die entweder von der Lehrperson selbst produziert wurden, die in der digitalen Version des Lehrmittels zu finden sind, oder in einer fachspezifischen Sammlung, in Mathematik etwa der Khan Academy. Zwar sind sie damit auf den ersten Blick vielleicht nicht schneller, aber wahrscheinlich effizienter. Und das ist ja auch eine Form der Zeitersparnis.

… Video- und Tonaufnahmen

Das Internet liefert viele weitere Beispiele dafür, wie mit digitalen Hilfsmitteln Lernen sichtbar gemacht und bewertet werden kann: Eine Schülerin nimmt auf dem Smartphone auf, wie sie einen Text vorliest und hört ihn dann mit der Lehrperson, die diese Aufnahme mittels einer vorher bekannten Kriterienliste kommentiert. Oder eine Sportlehrperson filmt einen Schüler beim Geräteturnen, um nachher gemeinsam den Bewegungsablauf zu studieren.

Philippe Wampfler erleichtert sich die Arbeit, als er merkt, dass mehrere Schülerinnen und Schüler dieselben Fehler machen, denselben Arbeitsschritt auslassen und dass er langsam ungeduldig wird: Er nimmt ein Video auf, in dem er diesen Punkt nochmals vertieft erklärt. Eine Lehrerin sieht, dass jemand ein Problem, das viele hatten, besonders gut angegangen ist. Beide entschliessen sich, individuelle Lernprodukte exemplarisch in einer Form zu kommentieren, die die ganze Klasse zur Kenntnis nimmt. Das kann in Anwesenheit im Plenum sein (Arbeitsblätter, auf die die Schülerinnen und Schüler schreiben, Folien, die ein Beispiel zeigen), oder ihnen beim Fernlernen als Videobotschaft kommuniziert werden.

Es zahllose weitere Beispiele. Wer anfängt, sich umzuhören, auch im eigenen Kollegium, trifft auf viele Ideen. Die Beispiele, die wir hier aufgezählt haben, münden in ausformulierten Feedbacks. Das muss nicht sein. Man kann mit Farben signalisieren, wo jemand steht, mit Buchstaben, Prädikaten, oder selbstverständlich auch mit Zahlen, wenn das der Lehrperson nützlich erscheint.

So stark wir hier konzeptionell unterscheiden zwischen Beurteilung und Bewertung, im Schulalltag sind die beiden nicht trennscharf und auch nicht immer exakt.

Auch Maschinen und Digitalisierung können die Arbeit der Lehrpersonen nur vereinfachen, aber nie ersetzen. Ob in Fernunterrichtzeiten oder im «normalen» Unterricht: Expertinnen und Experten für die Förderung und Beurteilung von Schülerinnen und Schülern sind und bleiben die Lehrpersonen. Aufgrund ihrer Erfahrung treffen sie oft objektive und seriöse Einschätzungen über den Lernbedarf von Schülerinnen oder Schülern und über die Zuteilung von Bildung.

3 Kommentare zu „Sieben Wochen ohne Noten – Geschenk oder Schikane?“

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