Lehrerfortbildnerin Lisa Rosa erklärt, wieso beim Thema digitale Transformation und Schule die einfachen Lösungen selten die guten sind, warum digitale Medien viel mehr als nur Hilfsmittel des Lernens sind und weshalb die Aussage «Lernen bleibt Lernen» unhaltbar ist.
1. Was bedeutet die digitale Transformation für die Schule?
Diese Frage wird endlich von allen Dächern und von allen Spatzen gepfiffen. Und weil wir damit spät dran sind – immerhin sind die «neuen Medien» schon Jahrzehnte da –, möchte man jetzt am liebsten ganz schnell die richtigen Antworten haben und alles sofort umsetzen. Aber wie Daniel Kahnemann in Schnelles Denken, Langsames Denken gezeigt hat, sind die schnellen Antworten nicht immer die guten. Simplifizierung und Verkürzung ist jedoch an der Tagesordnung. Allerdings besteht eine nicht simplifizierende Vereinfachung nicht im Weglassen von Zusammenhängen. Wenn Zusammenhänge zerrissen werden, bevor sie überhaupt gedacht, geschweige verstanden wurden, dann beschäftigen wir uns nur mit isolierten Einheiten. Diese isolierte Sicht führt zu ganz anderen Vorstellungen von der Sache und dann auch zu anderen Maßnahmen in der Praxis. Und diese Maßnahmen führen uns vielleicht auf einen Weg, den wir – wenn wir über das Ende des Wegs (und die Zusammenhänge) wüssten – niemals gehen würden.
Der Zusammenhang: Die Transformation ist eine der gesamten Gesellschaft und Folge der Durchsetzung eines neuen dominanten Informations- und Kommunikationsmediums. Information wird auf eine neue Art und Weise gewonnen, verarbeitet und gesellschaftlich verteilt. Und nicht nur das: Auch die Gegenstände, die gewusst, gekonnt (und gewollt) werden müssen, um die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, verändern sich radikal. Da Wissen und Lernen (als Operationsweise von Wissen) das «Kerngeschäft» der Schule betrifft, muss diese Institution also gerade in besonderer und radikaler Weise vom digitalen Wandel betroffen sein. Selbst der jahrzehntelange notorische Widerstand der Schule gegen die «neuen Medien» kann als ein Ausdruck dieser Betroffenheit gelesen werden. Denn wenn diese Medien «nur Werkzeuge» wären, hätte man sie ja ganz entspannt betrachten und auch mal in die Hand nehmen und ausprobieren können. Es geht jedoch um mehr als bloß Wissen und Bildung: Computer und Internet sind nicht nur ein neues Informations- und Kommunikationsmedium, mit dem wir anders kommunizieren und lernen. Sie krempeln die ökonomischen Grundlagen unserer Gesellschaft, die Produktionsweise um. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern bereits eingetreten, wie Michael Giesecke bemerkt:
«Die Hauptfunktion des Konglomerats digitaler Medien liegt längst nicht mehr in der Verständigung zwischen Menschen, sondern in der Steuerung der materiellen Produktion, der Börse, der politischen Systeme, der Wissenschaften u.v.a.m. Es sind soziale Medien, ja auch, aber nur unter anderem. Für das Funktionieren der technischen Dinge sind sie mittlerweile unverzichtbar, für die zwischenmenschliche Kommunikation nicht. » (S. 29f)
Und deshalb verändern sich nicht nur die Art und Weise und die Gegenstände des Lernens, sondern auch seine gesellschaftliche Bedeutung, seine Bedingungen und das Ausmaß der Konsequenzen.
2. Was bisher geschah
Die übliche Reduktion des (digitalen) Mediums im Kontext der Bildung auf ein (neues) Hilfsmittel zum (pädagogisch vorteilhaften) Unterrichten weiß entweder nichts von diesen gesamtgesellschaftlichen Effekten oder blendet dieses Wissen aus, wenn es um Lernen und Schule geht. Ja, Medien sind auch Werkzeuge und Hilfsmittel, aber eben nicht nur. Die Schule ist keine von der Gesamtgesellschaft abgeschlossene Welt, obwohl sie manchmal nach innen wie außen diesen Anschein erweckt. Sie darf wegen ihres unbestreitbaren Zusammenhangs mit der Gesellschaft keinen eigenen, separaten, sozusagen «alternativen» Begriff von Medium, Lernen und Wissen haben, der diese gesamtgesellschaftlichen Effekte nicht erklären kann, den Zusammenhang zwischen Gesellschaft, (Leit-) Medium und Bildung leugnet und nur im Kontext Schule gilt. Bis vor einigen Jahrzehnten hatten die Bildungsinstitutionen tatsächlich mit der Gesamtgesellschaft übereinstimmende Begriffe: Sie bildeten Schlüsselbegriffe des (Selbst-) Verständnisses der Industriegesellschaft-Buchkultur, die sich die allgemeinbildende Pflicht-Schule als Institution ja überhaupt erst geschaffen hatte. In der Zeit der relativen Konsolidierung dieser Epoche im 20. Jahrhundert musste über diese einheitlichen Wissens-, Lern- und Medienbegriffe nicht gesprochen und nachgedacht werden, denn sie waren als Selbstverständlichkeiten so tief verankert, dass sie sogar als allgemein und ewig gültig verstanden wurden. Diese Zeiten sind vorbei.
3. Alles muss neu gedacht werden
Gerade, weil sie als Reflex auf den gesamtgesellschaftlichen Umbruch selbst im Wandel begriffen sind, müssen die Begriffe «Medium», «Wissen» und «Lernen» für die Schule neu geklärt werden. Das ist für Bildungsinstitutionen außerordentlich schwer zu akzeptieren, denn das hinterfragt deren Identität im Kern. Wie tiefgreifend die Neukonstruktion auch zum Begreifen des Ganzen sein muss, um zu verstehen, was mit Schule in den nächsten Dekaden passieren wird und soll oder nicht soll, und welche Optionen wir in diesem Prozess überhaupt haben, zeigt die Grafik von Michael Giesecke.
4. Was heißt Medium?
Gleichgültig, wo wir mit der Betrachtung der Grafik anfangen, es ist nie der «wirkliche» Anfang. Wir können also mit der Erklärung überall beginnen, z. B. links unten: Neue Medien führen zu neuen Weltbildern, diese führen zu neuem Wissen über die Welt (und uns selbst), das erzeugt neue Wahrnehmungsprogramme und diese führen schließlich wieder zur Entwicklung neuer Kommunikations- und Medienformen. Der Zusammenhang ist also nicht monokausal linear, sondern komplex: Das bedeutet, dass alles sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung eines ko-evolutionären Prozesses ist, in dem die einzelnen Einheiten sich in wechselseitiger Abhängigkeit entwickeln. Medien sind nicht beliebig (z. B. für didaktische Zwecke) austauschbare «Hilfsmittel», «an den Inhalten klebt Medienmaterial», sagt Giesecke. Und ebenso gilt umgekehrt: An den Medienformen kleben Inhalte, Ideen und ganze Weltbilder.
Wenn wir über Medien sprechen, ist es nützlich jeweils auch mit unterschiedlichen Begriffen zu bezeichnen, ob wir gerade die Ebene der Geräte, die der Werkzeuge oder die gesellschaftliche Ebene meinen, mit der sich Medien als Ganzheit eben von bloßen Geräten oder Instrumenten unterscheiden. Dann wird auch deutlich, dass das Verwenden digitaler Geräte und Tools allein noch überhaupt nichts darüber aussagt, ob mit ihnen ein adäquates «Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter» stattfindet. Umgekehrt gilt sogar: Ein adäquates «Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter» kann – nicht immer, aber eben auch – ohne diese Geräte und Tools stattfinden. Denn: «Web 2.0 ist keine Technologie sondern eine Einstellung. Das bedeutet, es gibt keine technologische Revolution, es ist eine gesellschaftliche Revolution. » (Stephen Downes)
5. Was heißt Gesellschaft?
Netzwerkgesellschaft nennt Manuel Castells bereits 1996 die am Horizont aufscheinende neue Gesellschaftsformation. «Von den nationalen Kommunikationsräumen des Buchdrucks zu den globalen Netzen der digitalen Medien» heißt der wegweisende Untertitel des oben zitierten Essays von Michael Giesecke. Die Grafik von David Ronfeldt und Harold Jarche ist nur ein Beispiel von vielen. Medium als Kriterium zur Periodisierung von Gesellschaftsepochen ist erst mit der Durchsetzung des digitalen Mediums als Leitmedium entstanden. Davor waren andere Dinge als epochemachend verstanden worden: Erst die Götter, dann die Ideen und Taten großer Männer, der Weltgeist, die Produktionsweise.
6. Was heißt Lernen?
«Lernen bleibt Lernen» ist der Titel eines Aufsatzes von Klaus Zierer, der die Vorstellung, es gäbe ein überzeitliches menschliches Lernen als anthropologische Konstante, auf den Punkt bringt. Michael Giesecke bezeichnet diese Vorstellung als einen der Mythen der Buchkultur, der die historische Lernwelt des Industriezeitalters verewigen möchte. Wer die ausgezeichnete Geschichte des Lernens von Bernd Fichtner kennt, der kann angesichts eines unhistorischen und biologistischen Ansatzes nur den Kopf schütteln. Auch der Wunsch, etwas ganz gewiss zu wissen, bevor wir es unseren Kindern «beibringen», ist Teil dieses alten Wissens- und Lernbegriffs, der so tut, als gäbe es uneingeschränkt objektives, absolut sicheres Wissen. Transformation bedeutet jedoch, dass sich zumindest ein Teil der Antworten erst während des Prozesses selbst entwickeln und herausstellen wird. Und dass wir in einer Umbruchszeit leben, kann man nicht mehr als bloße theoretische Behauptung oder gar einen interessengeleiteten Wunsch (z. B. der Industrie) abtun, denn sie ist längst eine gesellschaftliche und auch persönliche Alltagserfahrung der meisten Menschen geworden und muss als Tatsache verstanden werden. Das Denken in Zusammenhängen, in Beziehungen, in Prozessen, kontextbezogen und reflexiv – systemisches Denken also – verändert nicht nur die Art des Denkens, sondern erfordert auch eine neue Art des Lernens. Ob wir es problemorientiertes, situiertes oder Projektlernen nennen: Es ist grundsätzlich anders als das nachvollziehende, ent-kontextualisierte systematische Lernen von Kausalitäten, die bloß in eine Richtung laufen.
Die Erfahrung des Lebens in einer Umbruchzeit lehrt auch: Wissen (als Ergebnis von Lernen) ist immer vorläufig und wird beim auf Dauer gestellten Lernen ständig überwunden. Ergebnisoffenheit ist also ein wichtiges Merkmal des Lernens im 21. Jahrhundert. Dass das Augenmerk mehr auf dem Prozess anstatt wie bisher ausschließlich auf den Ergebnissen liegt, heißt jedoch keineswegs, dass die Ergebnisse beliebig oder egal wären. Denn die Entscheidung, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll, können wir – und müssen wir sogar – jetzt treffen. Dazu müssen wir mögliche Ergebnisse (Szenarien) vorwegdenken, und dies für Zeiträume, die die eigene Lebensspanne übersteigen. Gleichzeitig geht es um ein persönlich bedeutsames Lernen, ein Lernen mit Engagement, das auf einem von rationalen Kriterien geleiteten Urteil beruht. Urteilsfähigkeit ist daher heute mehr denn je gefragt und kommt auf die Liste dessen, was am Ende der Schulzeit gewusst/gekonnt/gewollt (kurz: Kompetenz) sein muss. Ein vernünftiges Urteil kann sich jedoch nur bilden, wer viele Seiten einer Sache gesehen hat. Das bedeutet: Wissen ist multiperspektivisch. «Wir brauchen Leute, die nicht alles glauben, was ihnen im Internet gesagt wird», sagt die Direktorin des Max-Planck-Instituts für Informatik, Anja Feldmann. In meinen Augen ist das Ziel noch viel umfassender: Die Leute – also alle, nicht nur wie bisher eine dünne Schicht der Gebildeten (Akademiker, «Leistungsträger», «Elite»… ) – müssen lernen, überall – nicht nur im Internet – begründet vernünftig zu urteilen anstatt zu glauben, was ihnen gesagt wird.
Eine weitere Einsicht liegt in der Gesellschaftlichkeit von Wissen. Die dominante Vergesellschaftungsform wird zukünftig die Vernetzung sein. Nicht nur Lernen in und mit Netzwerken, sondern auch das Ziel, Netzwerken zu lernen, ist Bestandteil der Kompetenzliste. Auch eine neue gesellschaftliche Vorstellung davon, was gelernt werden muss und wie dieses Wissen/Können/Wollen zusammenhängt, zeichnet sich ab. Eine grobe Zusammenfassung der Kernziele einer neuen Allgemeinbildung findet sich in dem Schlagwort 4K. Die Abkürzung steht dabei für die Fähigkeiten Kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kollaboration.
Wie diese Fähigkeiten («Skills») mit Wissen («Knowledge») sowie Haltungen und Werten («Attitudes & Values») zu Kompetenzen verflochten werden, die in Handeln münden, zeigt die Grafik der OECD.
Es geht beim «zeitgemäßen Lernen» also ganz gewiss nicht darum, effizienter (also schneller und billiger) dieselben Ziele wie gestern zu erreichen, sondern darum, effektiver zu lernen, und zwar heute, im Hinblick auf neue Anforderungen, neue Bedeutungen alter Ziele und neue Ziele für ein erwünschtes Morgen.
Die beliebte Formel «Computer sind auch nur Werkzeuge» kann auch als Selbstvergewisserung gemeint sein, dass Computer – speziell auf der Stufe der Künstlichen Intelligenz und der vernetzt selbstlernenden «künstlichen Gehirne» – nicht die «Weltherrschaft übernehmen». Angesichts der mit Maschinen verknüpften utopischen Hoffnungen wie dystopischen Befürchtungen wird spätestens jetzt deutlich, dass wir nicht nur informatische Bildung brauchen, die uns zeigt, was Maschinenlernen ist, sondern auch sehr genau klären müssen, worin die Besonderheit menschlichen Lernens gegenüber dem Maschinenlernen (aber auch im Unterschied zum Lernen der Tiere und zum Lernen von sozialen Systemen) besteht.
«Sind diese neuen Kompetenzen denn nicht bloß die Zurichtung für die Bedarfe des neuen Arbeitsmarkts im Interesse der Wirtschaft? » – Das wird von Pädagogen oft gefragt. Ich denke, in den Papieren der OECD finden sich viele Hinweise darauf, dass das Bewusstsein dafür wächst, dass alle Menschen dieselben Grundbedürfnisse teilen, und ebenso dafür, dass sich eine «Elite der Reichen» langfristig nicht aus den globalen Problemen herauskaufen kann. Ganz sicher wachsen diese Einsicht sowie die Fähigkeiten und der Wille, das (politische) Handeln an dieser Erkenntnis auszurichten, nicht von selbst. Alle müssen sich lernend darum kümmern, dass sich diese universalistische Sicht im Interesse aller gegen eine partikularistische Moral im Interesse der wenigen durchsetzt. Dazu eben brauchen alle diese Kompetenzen. Neue Technologien, Medien, Innovationen entstehen niemals abstrakt und fallen nicht vom Himmel. Sie werden in ihren jeweils historischen Verhältnissen entwickelt, erfunden oder in eine bestimmte Richtung weiterentwickelt, um bestimmten Zwecken zu dienen. Die Bestimmung darüber, welchen Zwecken die neuen Technologien dienen sollen und welche Richtung ihre Entwicklung nehmen soll, dürfen wir nicht (mehr) denen überlassen, die sie bezahlen können und die damit Geld verdienen.
Umfassend sind also die Fähigkeiten, die gelernt werden müssen, umfassend global ist auch die Vernetzung, in der gelernt wird, und umfassend ist schließlich die gesellschaftliche Bedeutung des Lernens für das Überleben der ganzen Menschheit angesichts der ökologischen und sozialen Zerstörungen in der alten Epoche.
Liebe Lisa Rosa,
vielen Dank für diesen Input. Ich habe lange keinen so hervorragenden Beitrag zu diesem Thema gelesen und würde mir eine Gruppe wünschen, in der Zeit und Freude an einem Austausch über die vielen Denkanstösse möglich wäre.
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